«Als Kind sang ich Drossinis’ Lieder. Als Jüngling bewun- derte ich ihn. Als Erwachsener erkannte ich seinen großen dichterischen Wert. Und jetzt, da ich ein alter Mann bin, beneide ich ihn. Ich beneide ihn um seiner positiven Einfälle wüten, mit denen er im Laufe der neunzig Jahre, die seiner aktiven und gewinnenden Persönlichkeit vergönnt waren, so viele schöne, nützliche und wohltätige Dinge schuf, und wegen seiner Organisationsgabe und der methodischen Eingebung, mit der er günstige Umstände zu schaffen verstand, die dem oberflächlichen Beobachter bloß als Gaben des Schicksals erscheinen.
... Ich sehe ihn wie eine einsame, sanfte Ionische Marmorsäule, die mitten in den Resten eines schönen, antiken Tempels stehenblieb, und in deren klaren Linien und einfachen Hohlkehlen die Winde spielen, als ob unsichtbare Finger harmonisch die Saiten einer marmornen Leier liebkosten.»
Die Familie Drossinis, die man seit dem ι ι. Jahr - hundert in Byzanz vorfindet, hatte sich in neuerer Zeit in Mittelgriechenland, in Messolongi, niedergelassen, wo der Grobvater des Dichters im Jahre 1826 beim berühmten Ausfall der Belagerten als Brigadeoberst den Heldentod erlitt. Georgios Drossinis’ Mutter gehörte dem bekannten Geschlecht Petrokokkinos aus Chios an.
Die Familie besaß auf Euböa ein größeres Gebiet mit dem Dorf Guva und einem Schloß, an dem letztes Jahr eine Gedenktafel zu Ehren des Dichters angebracht würbe. Dort hat sich die vorliegende Erzäblung zugetragen Drossinis’ Gattin, Mary, entstammte dem vornehmen thessalischen Geschlecht Kassavetis von Zagora am Berg Pelion, an der Ägäis. So stellen Messolongi, Euböa und der Pelion die drei Orte dar, wo der am 21. Dezember 1859 in Athen geborene Dichter mit dem griechischen Heimatboden am innigsten verbunden war: Messolongi mit seiner ruhmreichen Geschichte, Euböa mit seinen gutmütigen Landleuten und der Pelion mit «meiner größten Liebe, dem Meer».
Von Drossinis’ zahlreichen Werken - es sind ihrer an die fünfzig - seien aus der Dichtung zunächst die «Amaranten» und die «Meeresstille» erwähnt, in denen er, Natur und Liebe glücklich vereinend, den Pelion besingt, dann die «Leuchtende Finsternis» und «Geschlossene Augenlider», von welchen ebenso wohllautenden wie tiefgründigen Gedichten manche als Lieder bekannt sind, und die «Totenklage der Schönen», eine zu einem großen Fresko verbundene Reihe anschaulicher Bilder aus Guva, die als des Dichters anerkanntes Meisterwerk gilt. Von Drossinis’ Prosa versetzen uns außer dem «Liebeskraut» auch «Ländliche Briefe» und «Amaryllis» in sein Dorf nach Euböa und lassen uns am dortigen Leben teilnehmen.
Das europäische Geistesleben kannte der Dichter aufs gründlichste. Er hatte in Deutschland studiert, war über die literarischen Publikationen Frankreichs stets bestens unterrichtet und übersetzte außer deutschen und französischen auch englische Dichter, nachdem er seinerseits schon vorher in fünfzehn verschiedene Spachen übersetzt worden war. Zur Anerkennung seiner europäischen Bedeutung wurde er Ritter der Ehrenlegion. Trotz seiner internationalen Aufgeschlossenheit trat er stets auf allen Gebieten für das echt Griechische ein. Drossinis war eines der ersten Mitglieder der Akademie von Athen, deren Organisation und Veröffentlichungen er während vieler Jahre betreute. Lange Zeit besorgte er auch die Herausgabe wohlfeiler, auf den verschiedensten Wissensgebieten der Volksbildung dienender Bücher, von denen er einzelne, wie das «Tagebuch der Belagerung von Messolongi», selbst verfaßte. Er leitete Zeit- schriften, gründete die Tageszeitung «Estia», gab den umfangreichen «Almanach Grobgriechenlands», eine wahre Fundgrube für Freunde griechischer Geschichte, Volkskunde und Literatur, heraus, und war außerdem Direktor für Literatur und Kunst am Erziehungsministerium. Zahlreiche Institutionen wurden durch ihn in entscheidender Weise gefördert, einzelne, wie das Museum für angewandte Kunst und das griechische Blindenheim, durch ihn gegründet. Auf allen Gebieten war er ein «bewundenswerter und mutiger Neuordner, welcher der Jugend einen neuen Geist einflößte, die Scholastik und die Routine beseitigte und einer ganzen Generation die Seele hob und Herz, Gefühl, Verstand und Vaterlandsliebe eingab», während seine Dichtung «alle wahrhaftigen Stimmen echt griechischen Lebens enthält, das Drossinis bis in seine Tiefen kennt, das er als einzigartiger Kolorist dargestellt, als zarter Solist beschrieben, als begeisterter Bildhauer belebt und wie ein moderner Architekt ausgestalter hat. Er hat es besungen als wahrhaft nationaler Dichter.» (S. Stephanu)
Nicht nur die Griechen nennen Drossinis, der hochbetagt und von allen geehrt am 3. Januar 1951 verschied, den «Dichter des griechischen Raumes und des edeln Gefühls» (G. Athanassiades-Novas), sondern auch Fremde stellen fest: «Oft kann man die junge Generation seines Landes im täglichen Leben einen seiner Gedichtbände in Händen halten sehen. So eng sind Drossinis’ Werke mit dem Leben des Volkes verbunden, daß dieses auch in seinen Prüfungen und Nöten Hilfe und Hoffnung beim Dichter findet. Das griechische Volk hat Drossinis’ Dichtung in sein Herz geschlossen.» (H. Fletcher Lee)
G. Xenopulos, der griechische Theaterschriftstel- 1er, hat noch zu Drossinis’ Lebzeiten in einer aus- führlichen Besprechung des «Liebeskrautes» geschrie- ben: «...Ich glaube sogar, daß man in unserer ganzen Literatur schwerlich andere Seiten von so eigenartigem Reiz fände. Dieser Roman besitzt jene Schönheit, die Drossinis allem verleiht, was er schreibt, seinen Erzählungen wie seiner Dichtung. Die Beschreibung der Natur, die Wiedergabe des Lebens der Bauern ist vortrefflich und treu. Was er mit so wahren Farben beschreibt, das hat er gesehen, erlebt und geliebt. Die Hälfte seiner Zeit pflegt er jagend, fischend und sich zu den Landleuten gesellend, auf dem Land zu verbringen, wo er Sprache und Bräuche des Volkes studiert, doch nicht als Sprachwissenschaftler oder Ethnologe, sondern mit der Liebe des Dichters, mit seinem rein menschlichen Interesse.
Das, Liebeskraut' ist eine Schatzkammer voller Beobachtungen. Wahrheitsgetreu, lebendig und poetisch, ist dessen Lektüre ein Genub für alle Volksschichten und alle Bildungsgrade. Es bleibt eines der schönsten Werke unserer Literatur.»]
G. D. Kοromilas
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